1. Das Symbolhafte - der "Falke"
Paul Heyse (1830-1914) prägte die "Falkentheorie", als er 1871 die Einleitung zum "Deutschen Novellenschatz" formulierte. Die Falkennovelle (neunte Novelle des fünften Tages) verkörpert alle Merkmale, die eine Novelle besitzen sollte. Sie beschreibt die Charaktäre der Personen nur so weit, wie sie zum Verständnis der Handlung notwendig sind. Triebfeder des Geschehens ist die Liebe Federigos zu Frau Giovanna und deren Liebe zu ihrem Sohn; das glückliche Ende der Geschichte führt jedoch über den Falken. Als Jagdfalke symbolisiert er dabei einerseits ritterliches Leben und andererseits steht er für die ritterliche Großherzigkeit seines Besitzers. Der Falke als Leitmotiv (= Dingsymbol) verändert sich im Verlaufe der Erzählung, er stellt das Spezifische dieser Geschichte dar, das sie von allen anderen Geschichten unterscheidet.
Horst Rüdiger: Boccaccio und sein "Decamerone":
"Der Falke aber, der zunächst ganz beziehungslos außerhalb der handelnden Personen zu stehen scheint, ist die geheime Achse, um die sich das Schicksal dreht (...). Es ist, als ob das bislang ruhende Schicksal durch den Falken in Bewegung gesetzt würde (...). Darum darf man mit einem gewissen Recht sagen, ein solcher Falke sei das formale Merkmal einer echten Novelle. Wo er nicht auftritt, wird nicht nur der Forderung des "Unerhörten" kein Genüge getan; vielmehr fehlt auch die Verdichtung des Schicksalhaften zu einem Symbol (...).
(H. Rüdiger: Boccaccio und sein Decamerone. In: G. Diezel: Der Decamerone von G. Boccaccio. Zürich 1957)
2. J.W. Goethe im Gespräch mit Eckermann vom 29. Januar 1827:
Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das ganze passend und also der rechte gewesen wäre. "Wissen Sie was", sagte Goethe, "wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandschaften vor."
3. A. W: Schlegel bezeichnet "die Novelle als Schwester der Dramas", weil sie ähnlich wie das Drama über einen Wendepunkt verfügt. (Peripetie = Wendepunkt, Handlungsumschwung im klass. Drama)
"So viel ist gewiß: die Novelle bedarf entscheidender Wendepunkte, so daß die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen fallen, und dies Bedürfnis hat auch das Drama."
4. Theodor Storms Beschreibung der Novelle (zurückgezogene Vorrede 1881):
Die Novelle ist nicht mehr, wie einst, "die kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen überraschenden Wendepunkt darbietenden Begebenheit"; die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das ganze sich organisiert (...).
1. J.W. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
Dieser Novellenzyklus ist 1794/95 entstanden. Die Rahmenhandlung stellt die Unterhaltung einer Gruppe Adliger in Begleitung eines Geistlichen dar, die sich vor den französischen Truppen während der französischen Revolution versteckt hält. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich acht Geschichten. Die vierte Geschichte entstammt aus den Memoiren des Marschalls von Bassompierre. Sie erzählt von einer Liebesbegegnung zwischen dem Marschall und einer unbekannten Schönen zur Zeit der Pest. Der Schluß läßt offen, ob die junge Frau an der Pest gestorben oder einfach nur verschwunden ist. Hugo von Hofmannsthal hat die Novelle um 1900 aufgegriffen und erweitert erzählt.
2. Giovanni Boccaccio: Il Dekamerone
Zwischen 1349 und 1353 schrieb der italienische Dichter G. Boccacio (1313-1375) seinen Novellenzyklus "Il Decamerone"; der Titel läßt sich mit dem Wort Zehntagewerk ins Deutsche übersetzen. Das Werk erzählt von einer Gruppe von Männern und Frauen, die aus Florenz vor der Pest flüchten und auf einem Landgut isoliert sind und sich zehn Tage lang zehn Geschichten erzählen. Das Dekameron ist Vorbild für fast alle europäischen Novellenzyklen geworden. Am bekanntesten ist die neunte Novelle des fünften Tages, die "Falkennovelle".