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 Die Novelle als Gattung

 

    Der Novellenbegriff

    Das Wort Novelle stammt aus der Rechtswissenschaft; novella lex (lat.) bezeichnet einen Nachtrag zu einem bestehenden Gesetz. Das italienische Wort novella, eine Diminutivbildung, bedeutet Neuigkeit, Nachricht. Es bezeichnet in der Übertragung auf eine literarische Gattung eine Erzählung, meist in Prosa. In dieser Bedeutung dringt der Begriff ab 1760 allmählich nach Deutschland.

    Die erste Definition der literarischen Gattung Novelle in der deutschen Literatur wurde von Christoph Martin Wieland (1733-1813) formuliert:

    "Novellen werden vorzüglich eine Art von Erzählungen genannt, welche sich von den großen Romanen durch die Simplicität des Plans und den kleinen Umfang der Fabel unterscheiden, oder sich zu denselben verhalten wie die kleinen Schauspiele zu der großen Tragödie und Komödie. Die Spanier und Italiäner haben derer eine unendliche Menge."

    (Chr. M. Wieland: Sämmtliche Werke, Bd.11, "Die Abenteuer des Don Silvio von Rosalva")

 

    Abgrenzung der Novelle zur Kurzgeschichte und zum Roman

  • Friedrich Schleiermacher: Eintragungen im Tagebuch (1799/1800) über Roman und Novelle:
  • "Wenn der Roman auf dieDarstellung der innern Menschheit geht und ihrer Einheit an der wechselnden Reihe der äußeren Verhältnisse: so geht die Novelle wohl eigentlich auf die Darstellung der äußeren Menschheit, nämlich der geselligen Verhältnisse und ihrer Formen an der verschiedenen Reihe der inneren Verhältnisse und ihren Rückwirkungen."
  • Theodor Mundt über Roman und Novelle:

  • "Bei der Novelle wäre somit der Schluß oder die Pointe, worauf die Begebenheiten hinstreben, als das entschiedenste und ihrem Interesse wesentlichste Moment anzusehen, das Interesse des Romans aber würde nicht sowohl in dem Resultat des Ausgangs beruhen, als vielmehr in der fortlaufenden, mannigfach wechselnden Richtung des Lebens selbst."
    • Nach Klaus Doderer lassen sich die Unterscheidungsmomente zwischen Novelle und Kurzgeschichte in sechs Thesen zusammenfassen:
    • In der Novelle wird das geschilderte Ereignis durch die Handlungsführung begründet, in der Kurzgeschichte nicht.
    • Die Novelle weist eine Entwicklung auf, die Kurzgeschichte nicht.
    • Die Novelle gestaltet eine >unerhörte Begebenheit<, die Kurzgeschichte schränkt ihr Thema noch weiter ein auf die Wiedergabe eines Schicksalsbruches.
    • Die Novelle kann ihre >Idee< beliebig wählen. Der Kurzgeschichte ist sie vorgeschrieben durch den Gedanken des Schicksalsbruches.
    • Die Stellung des Zielereignisses innerhalb der Novelle ist variabel. In der Kurzgeschichte liegt der Platz des Zielereignisses völlig fest.
    • In der Novelle wird das Zielereignis vorbereitet und unterbaut. In der Kurzgeschichte ist es isoliert und durch den Alleinstand besonders ausgezeichnet.

    (Klaus Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland. Ihre Form und Entwicklung. Darmstadt 1980)

  • Merkmale einer Novelle
  • 1. Das Symbolhafte - der "Falke"

     

    Paul Heyse (1830-1914) prägte die "Falkentheorie", als er 1871 die Einleitung zum "Deutschen Novellenschatz" formulierte. Die Falkennovelle (neunte Novelle des fünften Tages) verkörpert alle Merkmale, die eine Novelle besitzen sollte. Sie beschreibt die Charaktäre der Personen nur so weit, wie sie zum Verständnis der Handlung notwendig sind. Triebfeder des Geschehens ist die Liebe Federigos zu Frau Giovanna und deren Liebe zu ihrem Sohn; das glückliche Ende der Geschichte führt jedoch über den Falken. Als Jagdfalke symbolisiert er dabei einerseits ritterliches Leben und andererseits steht er für die ritterliche Großherzigkeit seines Besitzers. Der Falke als Leitmotiv (= Dingsymbol) verändert sich im Verlaufe der Erzählung, er stellt das Spezifische dieser Geschichte dar, das sie von allen anderen Geschichten unterscheidet.

     

    Horst Rüdiger: Boccaccio und sein "Decamerone":

    "Der Falke aber, der zunächst ganz beziehungslos außerhalb der handelnden Personen zu stehen scheint, ist die geheime Achse, um die sich das Schicksal dreht (...). Es ist, als ob das bislang ruhende Schicksal durch den Falken in Bewegung gesetzt würde (...). Darum darf man mit einem gewissen Recht sagen, ein solcher Falke sei das formale Merkmal einer echten Novelle. Wo er nicht auftritt, wird nicht nur der Forderung des "Unerhörten" kein Genüge getan; vielmehr fehlt auch die Verdichtung des Schicksalhaften zu einem Symbol (...).

    (H. Rüdiger: Boccaccio und sein Decamerone. In: G. Diezel: Der Decamerone von G. Boccaccio. Zürich 1957)

    2. J.W. Goethe im Gespräch mit Eckermann vom 29. Januar 1827:

    Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das ganze passend und also der rechte gewesen wäre. "Wissen Sie was", sagte Goethe, "wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandschaften vor."

    3. A. W: Schlegel bezeichnet "die Novelle als Schwester der Dramas", weil sie ähnlich wie das Drama über einen Wendepunkt verfügt. (Peripetie = Wendepunkt, Handlungsumschwung im klass. Drama)

    "So viel ist gewiß: die Novelle bedarf entscheidender Wendepunkte, so daß die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen fallen, und dies Bedürfnis hat auch das Drama."

    4. Theodor Storms Beschreibung der Novelle (zurückgezogene Vorrede 1881):

    Die Novelle ist nicht mehr, wie einst, "die kurzgehaltene Darstellung einer durch ihre Ungewöhnlichkeit fesselnden und einen überraschenden Wendepunkt darbietenden Begebenheit"; die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das ganze sich organisiert (...).

     

    Textbeispiele

     

    1. J.W. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

    Dieser Novellenzyklus ist 1794/95 entstanden. Die Rahmenhandlung stellt die Unterhaltung einer Gruppe Adliger in Begleitung eines Geistlichen dar, die sich vor den französischen Truppen während der französischen Revolution versteckt hält. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich acht Geschichten. Die vierte Geschichte entstammt aus den Memoiren des Marschalls von Bassompierre. Sie erzählt von einer Liebesbegegnung zwischen dem Marschall und einer unbekannten Schönen zur Zeit der Pest. Der Schluß läßt offen, ob die junge Frau an der Pest gestorben oder einfach nur verschwunden ist. Hugo von Hofmannsthal hat die Novelle um 1900 aufgegriffen und erweitert erzählt.

    2. Giovanni Boccaccio: Il Dekamerone

    Zwischen 1349 und 1353 schrieb der italienische Dichter G. Boccacio (1313-1375) seinen Novellenzyklus "Il Decamerone"; der Titel läßt sich mit dem Wort Zehntagewerk ins Deutsche übersetzen. Das Werk erzählt von einer Gruppe von Männern und Frauen, die aus Florenz vor der Pest flüchten und auf einem Landgut isoliert sind und sich zehn Tage lang zehn Geschichten erzählen. Das Dekameron ist Vorbild für fast alle europäischen Novellenzyklen geworden. Am bekanntesten ist die neunte Novelle des fünften Tages, die "Falkennovelle".

     

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